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Befund: Spinale Muskelatrophie

Hinter dem komplizierten Wort verbirgt sich eine seltene Erbkrankheit. Unbehandelt sterben viele Säuglinge in den ersten Lebensmonaten. Neue Medikamente machen Eltern Hoffnung.

Elisa Hubmeier hatte sich so sehr ein Baby gewünscht. Doch schon in den letzten Schwangerschaftswochen merkte sie, dass sich das Kind in ihrem Bauch immer weniger bewegte. Auch nach der Geburt war ihr Kind weniger lebhaft als andere Kinder. Meistens lag es still da. Eine merkwürdige Schwere schien sich auf das Baby gelegt zu haben. Elisa Hubmeier ging zuerst zu ihrem Kinderarzt und dann zu einem Muskel-Spezialisten. Dieser diagnostizierte eine spinale Muskelatrophie, Typ 1.

Bei dieser Krankheit sorgt ein fehlerhaftes Gen dafür, dass die Nervenzellen im oberen Rückenmark keine Signale mehr an die Muskeln des Körpers senden können. Die Muskeln werden nicht gefordert und verkümmern langsam – wie bei einem Arm, der nach einem Bruch länger in einem Gips gewickelt war. Die Folge sind Lähmungen und Muskelschwund. Grund dafür ist eine Veränderung am Chromosom 5q. Es sorgt dafür, dass der Körper zu wenig Protein produziert - Protein, das die Nervenzellen im Rückenmark zum Senden von Signalen brauchen.

Nervenzellen verkümmern

Bei Babys zeigt sich die Krankheit sehr schnell, nämlich schon in den ersten sechs Lebensmonaten: Die betroffenen Kinder können den Kopf nicht heben, der Kopf wackelt meist unkontrolliert hin und her. Auch andere Bewegungen erscheinen kraftlos und unkoordiniert. Ohne Unterstützung können die Babys nicht sitzen. Da die Krankheit auch die Zwischenrippenmuskeln betrifft, die normalerweise den Brustkorb erweitern, ist der Brustkorb kleiner und schmaler als bei gesunden Kindern. Das Atmen fällt den Kindern schwer. Unbehandelt sterben die Kinder meist früh an Atemschwäche.

Etwa eins von 10.000 Kindern wird mit der Krankheit spinale Muskelatrophie geboren. Das sind in Deutschland etwa 80 Kinder jedes Jahr. Die Krankheit wird autosomal rezessiv vererbt, das heißt, dass beide Eltern bereits krankhaft veränderte Chromosomen 5q haben müssen, damit das Kind die Krankheit bekommt. Deshalb fragt der Arzt meistens auch beim ersten Besuch, ob bereits eine Erkrankung in der Familiengeschichte beider Eltern bekannt ist, bevor er das Kind körperlich untersucht. Nach dieser mündlichen Befragung der Eltern misst er die Leitungsgeschwindigkeit der Nerven des Kindes mittels einer Elektroneurografie und derjenigen der Muskeln mittels einer Elektromyografie. Ausschlaggebend für die Diagnose „spinale Muskelatrophie“ ist jedoch eine Untersuchung des Genoms.

Die Krankheit ist nach aktuellem medizinischen Stand nicht heilbar, lässt sich aber behandeln. Bis zur Möglichkeit einer ursächlichen Behandlung starben die meisten Kinder in den ersten zwei bis drei Jahren, wenn sie nicht maschinell beatmet wurden. Die Krankheit galt als häufigste, genetisch bedingte Todesursache bei Säuglingen und Kleinkindern.

Neuartige Therapien

Seit kurzer Zeit gibt es Therapien gegen die Krankheit: Ein neuartiges Medikament, das seit Mai 2017 in Deutschland zugelassen ist, setzt an der Ursache der Krankheit an. Es regt die Proteinproduktion des Körpers an und sorgt so dafür, dass die Nerven im Rückenmark wieder Signale an die Muskeln senden können. Es muss regelmäßig mit einer sogenannten Lumbalpunktion zugeführt werden. Dabei wird Nervenwasser aus dem Rückenmark abgeleitet und das Medikament in gleicher Menge in das Rückenmark gespritzt. Laut dem „Ärzteblatt“, das sich wiederum auf zwei Studien beruft, kann diese Therapie den Verlust der Bewegungsfähigkeit aufhalten und damit das Sterberisiko der Patienten senken. Seit einigen Monaten gibt es eine bislang ausschließlich in den USA zugelassene Gentherapie, bei der ein Gen mit einer einmalig verabreichten Injektion in die Blutbahn des Patienten gespritzt wird, um die Aufgaben des fehlerhaften Gens im Körper zu übernehmen. Egal, welche Behandlung gewählt wird: Da die Krankheit unbehandelt rasch voranschreitet, ist es wichtig, die Krankheit früh festzustellen und eine schnelle Therapie einzuleiten.

Dr. Julia Egleder