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Leben mit Hämophilie
Die Bluterkrankheit führte früher oft durch Gelenkblutungen zu schwerer körperlicher Behinderung. Dr. med. Cornelia Wermes informiert im Interview darüber, was der Befund „Hämophilie“ heute bedeutet.
Frau Dr. Wermes, Sie sind Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und Vorsitzende des Ärztlichen Beirats der deutschen Hämophiliegesellschaft. Wie häufig kommt die Krankheit bei Kindern vor?
Die Bluterkrankheit, auch Hämophilie genannt, ist eine seltene Erbkrankheit. Man unterscheidet zwei Formen, die Hämophilie A, bei der der Gerinnungsfaktor VIII fehlt, und die Hämophilie B, bei der der Faktor IX nicht gebildet werden kann. In Deutschland leiden etwa 5.000 Patienten, darunter einige hundert Kinder, an einer schweren Hämophilie. Die Krankheit wird auf dem X-Chromosom durch die Mutter vererbt. In der Regel erkranken Jungen daran, weil sie nur ein X-Chromosom haben und deshalb die Krankheit voll ausbricht, wenn sie das schadhafte Chromosom der Mutter geerbt haben. Mädchen erkranken, wenn überhaupt, dann meistens nur leicht. Sie können das schadhafte Gen aber weitergeben.
Wie erkennen Eltern, dass ihr Kind an Hämophilie leidet?
Bei Hämophilieerkrankten funktioniert die Blutgerinnung nicht richtig. Viele Eltern erkennen die Krankheit deshalb bereits im Krabbelalter, wenn ihr Kind ohne erkennbaren Anlass viele blaue Flecken entwickelt. Durch Blutuntersuchungen können Ärzte die Krankheit daraufhin gut feststellen. Manche Eltern sind auch schon für die Krankheit sensibilisiert, weil in der eigenen Familie bereits mehrere Fälle aufgetreten sind. Einige Frauen lassen dann schon in der Schwangerschaft eine Fruchtwasseruntersuchung durchführen, wodurch die Diagnose gestellt werden kann. Diese Eltern werden dann häufig schon vor der Geburt in meinem Hämophiliezentrum oder in einer anderen Gerinnungspraxis vorstellig und bekommen sehr frühzeitig Informationen, wie sie mit der Krankheit des Kindes umgehen können.
Wie kann man die Krankheit behandeln beziehungsweise, was passiert, wenn sie unbehandelt bleibt?
Früher, als es noch keine Medikamente gegen die Krankheit gab, bluteten die Kinder oft innerlich: am häufigsten in die großen Gelenke der Beine, Knie und Sprunggelenke. Es entwickelten sich Hämarthrosen und die Gelenke konnten nicht mehr gestreckt werden. Nehmen wir zum Beispiel den letzten Zarewitsch der russischen Zarenfamilie: Dieser ist auf Fotos oft mit einer Gehhilfe zu sehen. Er konnte nicht mehr richtig laufen, weil seine Beine aufgrund der Krankheit schon beachtlich eingeschränkt waren. Natürlich konnte es auch vorkommen, dass Betroffene aufgrund eines Unfalls an ihren Verletzungen verbluteten oder an einer Gehirnblutung starben. Heute gibt es mehrere Behandlungsmöglichkeiten, die individuell an die Menschen mit Hämophilie angepasst werden. Welches Medikament das Geeignete ist, entscheidet der Gerinnungsspezialist oder die Gerinnungsspezialistin. Für die Behandlung gibt es spezielle Hämophiliezentren. Alle Medikamente müssen in regelmäßigen Abständen – je nach Schwere der Krankheit und nach Art der Therapie in unterschiedlichen Abständen – gespritzt werden, das ganze Leben lang. Es ist absolut notwendig, dass die Therapie regelmäßig erfolgt, sonst kann es zu schweren Blutungen, meist in den Gelenken, kommen.
Wie gestaltet sich der Alltag der Betroffenen? Müssen sich Eltern und Kinder sehr einschränken?
Nein, wenn das erkrankte Kind sich gemeinsam mit den Eltern an die Therapieempfehlung hält, ist ein nahezu normales Leben möglich. Klar, unfallintensive Sportarten wie Klettern, Kampfsport oder Fallschirmspringen sollten Betroffene nicht durchführen, aber sonst sind sie in ihrem Leben nur wenig eingeschränkt. Physiotherapie zum Aufbau von Muskeln und Schutz von Gelenken kann sinnvoll sein, etwa wenn es schon zu leichten Gelenkblutungen gekommen ist oder auch um Schmerzen entgegenzutreten.
Dr. Julia Egleder
Frau Doktor Wermes

