
Artikel
Nebenwirkung Hörverlust
Eine Chemotherapie rettet in der Kinderonkologie Leben, weil sie das Wachstum der Krebszellen hemmt. Doch es kann zu gravierenden Nebenwirkungen kommen, unter anderem zum Hörverlust. So erging es auch der kleinen Emma.
Als Emma drei Jahre alt war, stand die Welt ihrer Eltern für einen Moment still. Ein bösartiger Tumor wurde in der Niere ihrer Tochter entdeckt – die Diagnose traf sie bei einem routi- nemäßigen ärztlichen Check völlig unvorbereitet. Das gesamte Leben änderte sich – die nächsten Wochen waren geprägt von Krankenhauszimmern, piependen Geräten und einem Wort, das Emma bald selbst aussprechen konnte: „Chemo“.
Die Behandlung war körperlich wie psychisch belastend, aber sie wirkte. Die kleine Kämpferin ertrug die Chemotherapie tapfer, nach mehreren Zyklen schien sich der Krebs zurückgebildet zu haben, der Tumor war besiegt und die Erleichterung riesig. Die Familie wollte nun zu einem normalen Alltag zurückkehren. Doch einige Monate später bemerkte die Mutter etwas Seltsames: Emma reagierte nicht mehr, wenn sie aus dem Nebenzimmer gerufen wurde. Auch im Kindergarten wirkte sie abwesend und distanziert. Die ärztliche Diagnose: Hörverlust.
DER UNSICHTBARE PREIS DER HEILUNG
Was den Eltern vorher nicht bewusst war: Verursacher von Hörverlust sind verschiedene Arzneimittel wie das hochwirksame Chemotherapeutikum Cisplatin, das bei vielen Krebsarten eingesetzt wird – gerade bei Kindern. Es gilt als Lebensretter, wirkt sich aber in vielen Fällen auf den Hörsinn aus. Cisplatin ist ototoxisch. Das bedeutet, es kann das Innenohr schädigen, Tinnitus, also klingelnde Ohrgeräusche erzeugen, zu Gleichgewichtsstörungen führen oder eben dauerhafte Folgen haben. Besonders junge Patient/-innen sind betroffen, da ihr Gehör sich noch in der Entwicklung befindet.
Emma ist kein Einzelfall. Schätzungen zufolge leiden bis zu 60 Prozent der mit Cisplatin behandelten Kinder an bleibendem Hörverlust – oft beidseitig. Das bedeutet nicht nur, dass sie schlecht hören. Es bedeutet unter Umständen: Verzögerte Sprachentwicklung, Lernprobleme, Isolation. Deshalb ist es für Eltern so wichtig, hier aufmerksam zu sein und darauf zu achten, ob Kinder ein verändertes Verhalten zeigen, das unter Umständen mit vermindertem Hören zu erklären ist
DER NEUE FOKUS: LEBENSQUALITÄT
Emmas Eltern engagieren sich mittlerweile für mehr Aufklärung: Sie wünschen sich, dass regelmäßige Hörtests während der Therapie selbstverständlich werden – und dass die Medizin mehr tut, um Nebenwirkungen zu vermeiden. Denn begleitende Therapien werden bereits entwickelt und die Forschung zur Prävention ototoxischer Schäden wird intensiviert. Primär geht es natürlich um das Überleben und hier hat die Kinderonkologie in den letzten Jahren glücklicherweise enorme Fortschritte gemacht. Doch es geht auch darum, mit welcher Lebensqualität ein Kind weiterlebt. „Ich würde alles wieder tun, wenn es bedeutet, dass Emma lebt“, sagt ihreMutter. „Aber wenn wir es anderen Kindern ersparen können, ihr Gehör zu verlieren, dann müssen wir es versuchen.“ Die Geschichte von Emma steht für viele, auch für Familien, die lernen mussten, dass Heilung zwar zentral, aber nicht alles ist. Wahre Genesung bedeutet auch, das Leben danach hören und erleben zu können.
Sabine Clever